Reisebericht: Argentinien, Chile - Patagonien pur

Reisebericht über Patagonien von Wolfgang Gottschick

Dort, wo nichts ist, füllt Phantasie den Raum. Vielleicht liegt es daran, dass Patagonien bis heute ein magischer Ort geblieben ist!

Patagonien - Ein Sehnsuchtsort am Ende der Welt!

Mit dem Tango bis ans Ende der Welt

Patagonien ist düster, wolkenverhangen und winddurchtobt. Am Ende der Welt liegt es und fühlt sich an wie vom Wetter gegerbtes Leder. Man meint, einen fernen, nicht endenden Laut zu vernehmen, der durch die Luft schwirrt wie ein Tango von einer alten Schellackplatte. Viele empfinden das Land geheimnisvoll, rätselhaft. Pampa, Berge, Gletscher und Lagunen sind von einer besonderen Art Trübnis bedeckt. So ging es mir durch den Kopf auf dem langen Heimflug nach Europa. Aber der Reihe nach: Jeder Anfang ist von Hoffnung und Neugier geprägt.

Tango Argentino

Im Dezember blüht der Jacaranda purpurn, aber jetzt ist es Februar und die rosafarbenen Blüten des Flaschenbaums schmücken die Parkanlagen in Buenos Aires. Hier ist es Sommer und schön warm. Auch unsere Hoffnung auf eine außergewöhnliche Tour blüht auf. Wir hören: Seit zweieinhalb Jahren soll El Chalten, dem ersten Zielort unserer Reise in Patagonien, geschlossen gewesen sein: Touristenmangel, geschuldet der Pandemie. Aber nun geht es wieder aufwärts. Wir sind eine Hauser-Gruppe von elf Teilnehmern und treffen die ersten Vorkehrungen. Geld wird gewechselt, freilich, bei Alessandro. Er hat dicke Bündel mit Argentinischen Banknoten mitgebracht. Wir erleben, was Hyperinflation bedeutet: Niemand will den Peso haben. Wir aber greifen zu, wechseln so gut es geht, denn nur so werden wir in Patagonien durchkommen. Es kann losgehen!

Was führt einen Reisenden in diese Gegend? Unsere Gruppe spielt die Frage durch. Bergsteigen, die außergewöhnliche Natur erleben, Pinguine, ja, Seelöwen oder Wale sehen? Vielleicht war die Lektüre von Antonio Pigafettas „Magellans Weltumseglung“ oder Darwins „Reise mit der Beagle“ der Anreiz?

Aber was ist Buenos Aires ohne den Tango? Die obligate Stadtbesichtigung führt uns durch die Straßen und auf den Plätzen wird getanzt: Tango Argentino. Das ist der richtige Tango vom Rio de La Plata. So haben ihn die porteños (Hafenarbeiter) immer schon getanzt. Am Abend besuchen wir eine Tango Schau. Der Tango ist dunkel. Eine Traurigkeit treibt ihn an, eine tiefe Einsamkeit, die nach Ausdruck sucht. Ein Klavier gibt den Rhythmus vor und zwei Violinen drücken den Seelenzustand aus, der an einen streunenden Wind erinnert. Erst langsam, dann heftig, bald schon böig, orkanartig treibt er dahin, während die Schritte der Tänzer auf den Boden stampfen wie das Zählwerk des Schicksals. Dumpf hallt der Bass im Hintergrund und Klangfetzen der Bandoneons (Knopfharmonikas) greifen wie in einem Befreiungsakt auf den Tanzschritt über.

Auf nach El Chaltén 

Südlich des Rio Negro erstreckt sich Patagonien bis hin zur Magellanstraße (El Estrecho). Weiter südlich liegt Feuerland am südlichsten Zipfel des Doppelkontinents, der sich immer schmaler hinein in die Finsternis des südlichen Ozeans schiebt. Kurz vor der Antarktis, krümmt sich das Festland wie der Stachel eines Skorpions nach Osten, um dann in den Wellen des Ozeans abzutauchen. Unzählige kleine Inseln ragen über die Wasserfläche wie Schuppen eines Urtiers, der Stachel selbst, ein spitziges Inseldreieck, genannt Tierra del Fuego (Feuerland), bildet das Ende der Welt - El fin del Mundo.

Nach einem dreistündigen Flug nach Calafate am Lago Argentino wenden wir uns nach Norden und fahren entlang dem Lago Viedma nach El Chaltén. Die Straße führt durch Sanddünen und zerklüftete Hügel, Grasbüschel hin und wieder am Wegrand. Wir fahren auf einem Asphaltband, das bis zum Horizont auf und ab wogt wie die Wellen eines Tangos.

Pircas in der schönsten Lagune der Welt, Mount Fitz Roy, Argentinien

Am Rio Leona, der reichlich von den Gletschern aus den Bergen gespeist wird, kehren wir in der gleichnamigen Farm ein. Ein paar Einkäufe tätigen für die nächste Wanderung. Empanadas, Trozones de Pizza. Das Übliche. In der Gaststube hängt an der Bretterwand ein vergilbtes Fahndungsplakat „WANTED!“. Butch Cassidy und Sundance Kid werden von der Pinkerton-Agentur in New York gesucht. Die Outlaws haben sich nach Patagonien abgesetzt und betreiben in Cholila eine Farm. Aber das ist schon lange her, so um 1907. Ob die beiden wohl auch hier, am Rio Leona, waren? Gerüchte halten sich hartnäckig. Ein junger Mann mit markigen Tattoos schwingt schon den Eisenring, um ihn an den Haken an der Wand zu werfen. Ein erfolgloses Unterfangen. So leicht lassen sich Kriminalgeschichten nicht beenden. Als wir nach einigen Tagen nochmals an der Farm vorbeikamen, hing allerdings der Galgenring am Haken. So oder so hatte das Spiel ein Ende gefunden, was man von Butch Cassidy allerdings nicht behaupten kann.

Am Rio Leona, der reichlich von den Gletschern aus den Bergen gespeist wird, kehren wir in der gleichnamigen Farm ein. Ein paar Einkäufe tätigen für die nächste Wanderung. Empanadas, Trozones de Pizza. Das Übliche. In der Gaststube hängt an der Bretterwand ein vergilbtes Fahndungsplakat „WANTED!“. Butch Cassidy und Sundance Kid werden von der Pinkerton-Agentur in New York gesucht. Die Outlaws haben sich nach Patagonien abgesetzt und betreiben in Cholila eine Farm. Aber das ist schon lange her, so um 1907. Ob die beiden wohl auch hier, am Rio Leona, waren? Gerüchte halten sich hartnäckig. Ein junger Mann mit markigen Tattoos schwingt schon den Eisenring, um ihn an den Haken an der Wand zu werfen. Ein erfolgloses Unterfangen. So leicht lassen sich Kriminalgeschichten nicht beenden. Als wir nach einigen Tagen nochmals an der Farm vorbeikamen, hing allerdings der Galgenring am Haken. So oder so hatte das Spiel ein Ende gefunden, was man von Butch Cassidy allerdings nicht behaupten kann.

Beim nächsten Halt in der Pampa kommen wir der patagonischen Tierwelt näher. Ein Karakara (Geierfalke) hat sich auf einer Steinspitze niedergelassen und beobachtet von oben die Umgebung, denn hier bewegt sich Lebendiges in der kargen Landschaft. Zwei patagonische Graufüchse haben sich angenähert, neugierig, wohl auf einen Fresshappen spekulierend. Dann mimen sie Langeweile und legen sich ausgestreckt in den Sand, gähnen und zeigen ihr scharfes Gebiss. Das gibt prächtige Fotos, doch kein Happen fällt ab, also kehren sie uns den Rücken und entschwinden im dornigen Gebüsch.

Die Straße zum Fitz Roy läuft endlos in die Ferne, bis man schließlich hinter der öden Fläche der Pampa die blauen Zacken des Bergmassivs erblickt. Beim Näherkommen wachsen sie zu gewaltigen Türmen hoch und darüber wogt ein stürmisches Wolkenmeer. Ich neige den Kopf zurück und horche in die Ferne und habe den Eindruck, die grandiose Symphonie der Schöpfung zu erleben.

Warten auf Fitz Roy

Wir sind in guten Händen. Jeremias, der argentinische Guide, führt uns in die Berge. Er ist hier zuhause. Er kennt die Gegend hervorragend. Als Kletterer hat er die Gipfel bezwungen. Er ist wortkarg, wenn er danach gefragt wird. Wir sind im Nationalpark Los Glaciares auf dem Weg zur Laguna de los Tres am Fuß des Fitz Roy (3.405 m), jenem Berg in den Glaciares, der nach dem Kapitän der „Beagle“ benannt wurde. Der Wind tobt, reißt an unseren Jacken, die wir fester ziehen müssen. Die zwei Spitzen vor uns heißen Cerro Electrico, weil sie an die Pole von Elektroden erinnern. Viel Wasser fließt vom Rio Blanco herunter. Dann geht es hoch durch den Wald bis zum herrlichen Aussichtspunkt Mirador de las Piedras Blancas, ein strahlender Gletscher über einer türkisfarbenen Lagune. Im Base Camp Poincenot, hüpfen schon wieder die Karakaras herum auf der Suche nach einem Happen. Es geht über die Brücke des Rio Blanco und dann steigen wir auf 1.150 m hoch bis zum Rand der Lagune. Viele Bergsteiger sind unterwegs. Wunderbarer Blick auf den unten liegenden türkis leuchtenden Gletschersee. Fitz Roy hält sich allerdings bedeckt. Er gibt seinen Gipfel nicht frei selbst nach längerem Warten. Ein Blick auf die umliegenden Granitgipfel Aguja Saint-Exupery, Mojon Rojo, Techado Negro lassen ahnen, was wir nicht zu sehen bekommen. Die Wolken sind düster. Vom Wind getrieben gleichen sie surrealen Flugkörpern. Eine dunkle Kulisse hängt über der Landschaft und man könnte meinen, in die Welt von Böcklin versetzt zu sein. Von einer nahen Anhöhe gibt es noch einen Blick auf die Laguna Sucia am Glaciar Rio Blanco. Selbst während des langen Abstiegs über den Lago Capri nach El Chalten werden wir den Gipfel des Fitz Roy nicht zu sehen bekommen. In Patagonien gibt es keine Garantie auf freie Sicht der Berge.

Heute geht es zur Laguna Cerro Torre mit Blick auf die berühmt-berüchtigte Granitnadel, dem Ziel der Extremkletterer. Das Wetter soll sich im Laufe des Tages ändern. Noch scheint die Sonne. Im niedrigwüchsigen Wald lernen wir die Scheinbuche kennen, die hier Lenga heißt (Nothofagus pumilio), dann die Paramela (Adesmia boronoides), eine gelb blühende Blume mit schwerem, betäubendem Duft. Ein weites Gletschertal breitet sich vor uns aus, besetzt von einem Wald skelettierter Bäume. Darüber erhebt sich der Cerro Solo (2.125 m). Im Wald geht es hoch. Wir ersteigen nach etwa drei Stunden Gehzeit die Endmoräne der Lagune. Ein heftiger, böiger Wind schlägt uns entgegen. Aufrechtes Stehen ist kaum noch möglich. Wir haben den Mirador Maestri erreicht. Ein Blick auf die Lagune zeigt treibende Eisschollen, die Sicht zum Gletscher hin ist allerdings wolkenverhangen. Vom berüchtigten Cerro Torre (3.128 m) ist nichts zu sehen. Trotzdem, wir steigen hinab zur Lagune, fischen Eisstücke aus dem Wasser, starren auf die undurchdringliche Nebelwand. Vergeblich. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als im Windschatten einiger Felsbrocken unser Lunch zu verzehren.

Fitz Roy Massiv
Fitz Roy Massiv

Über Felstürme und darüber hinaus

Der Mythos des Cerro Torres (Bergturm) begann nach der umstrittenen Erstbesteigung 1959 durch den italienischen Eiskletterer Cesare Maestri und dem Tiroler Toni Egger. Toni Egger kam dabei ums Leben und Cesare Maestri hatte keinen Beweis der Besteigung, da die Kamera mit dem Gipfelfoto verlorengegangen war. Die Bergsteigerwelt bezweifelt bis heute diese Besteigung. Maestri fühlte sich in seiner Ehre verletzt und wollte sein Können beweisen. 1970 setzte er zu einer erneuten Besteigung an. Diesmal verankerte er 300 Bohrhaken mit einem Kompressor in die Wand. Er musste aber abbrechen und erreichte den Gipfel nicht. In einer weiteren Besteigung kam er bis unter den Gipfelschneepilz, stand aber nicht auf der höchsten Spitze der Eisnadel. Die allerseits anerkannte Erstbesteigung fand am 13.01.1974 statt, von einer Vierergruppe italienischer Extremkletterer.

Die Besteigung des Cerro Torres ist eine Geschichte von Ehrgeiz, Ruhmsucht und Eitelkeiten, inklusive Tragödien und Leid. Sie zeigt wie im Brennglas, wozu Menschen fähig sind: Zu außergewöhnlichen Leistungen aber auch zu Wahn und Hochstapelei. Vielleicht versteckt sich deswegen der Berg hinter Wolken, aus Betroffenheit, Scham, Trauer?

Es ist eine Enttäuschung, den Berg nicht sehen zu können. Wir versuchten es am Folgetag auf der Pliegue-Tumbado-Route vom Aussichtspunkt auf 1.100 m. Vergeblich. Nebel und Wolken wollten nicht weichen. Das trifft den Bergsteiger mitten ins Herz, denn er hatte sich die Begegnung mit dem ersehnten Berg anders vorgestellt. Patagonisches Wetter kann erbarmungslos sein.

Ein neuer Standort. Hier sind es die Eistürme des Perito Moreno, die in einem transzendenten Blau leuchten. Man kann sich den Kontrast zu den Nebeltürmen im Fitz-Roy-Massiv größer nicht vorstellen. Wir sind am Lago Argentino angekommen, dem größten See Patagoniens. Der himmelblaue Schein des Eises reflektiert die Farbe, aus dem er geboren wurde. Zwischen Argentinien und Chile erstrecken sich riesige Gletscher, von denen der Perito Moreno der spektakulärste ist.  Die Gletscherzunge ist gut drei Kilometer breit und die Höhe der Abbruchstelle über dem Lago Argentino misst bis zu 60 m. Wer mit dem Schiff an den Gletscher heranfährt ist beeindruck von diesen Eistürmen, die wie blaue Kathedralen hochragen. Von einem Steg am gegenüberliegenden Hang aus wird das ganze Panorama sichtbar. Wer Glück hat, erlebt ein Spektakel, wenn der Gletscher kalbt und riesige Eisbrocken in den See stürzen. Uns war dies Schauspiel nicht vergönnt, dafür gab es auf dem Rückweg nach Calafate prächtige Chileflamingos, edle, rot gezierte Schwarzhalsschwäne, elegante Silberenten und jede Menge bunter, antarktischer Wasservögel auf dem Lago Argentino zu bewundern.

Chile, Chile, Chile!

Eine mehrere Kilometer lange Schotterpiste führt bis zur chilenischen Grenze. Andernorts ist man gewohnt Friedensbrücken, Freundschaftsbänder und dergleichen mehr an Grenzübergängen anzutreffen. Einsam in der Pampa und in großer Entfernung voneinander je ein Checkpoint mit wehenden Fahnen. „¡Bien venido a Chile!” Carlos, unser chilenischer Guide, holt uns ab. „In Patagonien ist das Wetter wechselhaft.“ Das ist eine Binsenweisheit, die wir ungern hören. Die Wolken hängen immer an den Bergzacken wie die Wolle im Kamm. Na ja, wir machen das Beste draus und schon stehen wir an der Laguna Amarga und Carlos deutet auf die Salzkruste des Sees, der keinen Zu- und Abfluß hat, also buchstäblich versalzen ist. Und er hat weitere Überraschungen parat.

Mit seinen nackten Beinen buddelt er sich, fast schon wie eine Robbe, in den Sand und erklärt die Geologie Patagoniens. Man soll das Gestein, die Fossilien richtig fühlen, um zu verstehen, was sich da vor Millionen Jahren im Erdinneren abgespielt hat. Die Plattentektonik, der Vulkanismus, gewaltige geologische Kräfte waren am Werk und haben diese wunderbare Landschaft geschaffen. Die Gesteinsbrocken sind rau, spröde, bunt: Granit, metamorphosiertes Gestein aus Vulkanschloten, Sedimentablagerungen von Stromatolithen im Miozän, die wiederum durch Magmahitze aufgeschmolzen und umgewandelt wurden zu dem Gestein, das wir so bizarr finden. Ein offenes Lehrbuch der Erdgeschichte, das seinesgleichen sucht. Und dann gibt es noch eine Zugabe: Wild herumstreifende Guanako-Herden und Nandus, die kleineren Brüder des afrikanischen Straußes. Aus Neugier pflückte ich noch einige Beeren vom Calafate-Strauch (Berberis buxifolia). Sie sind dunkelblau wie unsere Heidelbeeren mit harter Schale, im Geschmack ähnlich, jedenfalls das Ur-Gewächs Patagoniens, zum Mythos erhoben, veredelt zu Schnaps und Marmelade.

Wunderschön der Morgenblick auf die Torres del Paine von unserer Unterkunft aus. Hinter dem Lago Nordenskjöld sind die Cuernos und die Torres bis zu 2.800 m gut zu sehen. Ein nebliger Schleier windet sich um die Gipfel und vermittelt den Eindruck eines Aquarells. In der Nacht fiel leichter Schnee oberhalb der 1.000 m. Carlos stimmt uns ein auf den Aufstieg zu den Torres: „Zehn Stunden, amigos, arriba y abajo!“ Hin und zurück ca. 18 km und 900 Höhenmeter. Wir rechnen mit 7 Stunden, doch Carlos bleibt hart. „Der Weg ist schwer, chicos!“ Von der Porteria Laguna Amarga geht es zuerst in flachem Gelände bis zur Brücke über den Rio Ascension und dann mäßig bergauf, bergab bis zum Refugio Chileno. Von da steil hoch durch den Wald und dann der finale Aufstieg im Blockwerk einer Moräne zum See unter den Torres. Oben erwartet uns heftiger Wind. Die drei Felstürme ragen in den Nebel hinein und nur ihre breite Basis ist sichtbar. Immerhin. Wir sind bescheiden geworden in unseren Ansprüchen und verstehen, dass Carlos nicht mit hochgestiegen ist. Der Abstieg durch den Wald hat auch seinen Reiz. Es ist ruhig, fast schon einsam und dann waren es doch sieben Stunden, die Pausen inbegriffen.

Die 3 Türme des Cerro Torre

Noch ein Abstecher zum Lago Grey über das Geröll einer Endmoräne und durch kleinwüchsigen Wald bis zum Aussichtspunkt. Weit im Hintergrund ist der Gletscher sichtbar und sieht wie eine Fortsetzung des dichten Nebels über den Bergen aus.

Schließlich geht’s dann im Bus nach Süden bis Puerto Natales. Urlandschaft ringsum, totes Holz, knorrig gekrümmt. Baumskelette soweit das Auge reicht. Unbesiedelte Weiten, für einen Fremden ungewohnt. Faszinierend und bedrohlich die Einsamkeit. Schließlich erreichen wir Punta Arenas (sandige Spitze) die südlichste Stadt Chiles an der Magellanstraße. Ab hier beginnt der Kontinent einzudunkeln. Sprühregen liegt in der Luft, Wind und feuchte Kälte treibt durch die Straßen dieser inzwischen auf 130.000 Einwohner angewachsenen Hafenstadt an der berühmten Meeresstraße, wo Fernando Magellan vor rund fünfhundert Jahren im November 1520 mit den drei Schiffen Victoria, Trinidad und Conception die Ost-West-Passage entdeckte. Bis zur Eröffnung des Panama-Kanals (1914) lief hier reger Schiffverkehr um den Kontinent herum. Möwen und Kormorane haben sich auf den Stegen am Ufer niedergelassen. Vor dem silbern glänzenden Meer zeichnen sich ihre dunklen Silhouetten wie Schattenfiguren ab. Ein Treppenweg führt vorbei an bunten Häusern auf eine Terrasse oberhalb der Stadt mit herrlichem Panoramablick auf schmucke Häuser, den modernen Hafen, die Schiffe und die lang gestreckte Magellanstraße und darüber hinaus am dunklen Horizont beginnt das Ende der Welt, das Feuerland.

Und nochmals Chile. Das Gerücht geht rum: `“La Luna“, die kultische Gaststätte in Punta Arenas. Der Verkäufer im Souvenirladen lacht mir zu: „¡No se la pierda!“- „Verpaß es nicht!“ Da gibt es die merluza negra, den Antarktisdorsch, der auf dem Meeresgrund lebt und bis zu zwei Meter groß werden kann. Wird er geangelt und an die Oberfläche gehoben, wechselt er seine weiße Farbe in ein tiefes Schwarz. Es soll eine Delikatesse sein, lasse ich mir sagen. Und dann die Weinauswahl, hochgestapelt in Regalen über zwei Etagen. An die Wände gepinnt sind die Konterfeis von Berühmtheiten, die hier waren: Pablo Neruda, Gabriela Mistral, Victor Jara und wie sie alle heißen mögen. Nicht zu vergessen die Gäste, die Atmosphäre. Die Chilenen können sehr heiter und gemütlich sein. Hier wird der Tango gesungen.

Das Braun der Pampa wird grauer, das Licht wird trüber, der Wind nimmt an Heftigkeit zu und die Kälte umklammert den Körper wie ein nasses Tuch. Wir fahren auf der „Routa 3“ dem „Fin del Mundo“ entgegen. Wir haben Feuerland betreten und sind auf dem Weg nach Ushuaia, der südlichsten Stadt des Kontinents. Bei Punta Delgada haben wir die Magellanstraße mit einer Fähre überquert. Bis zum Puerto Espora auf der gegenüberliegenden Seite sind es kaum acht Kilometer. Auf offenem Meer bekommen wir die Heftigkeit der antarktischen Winde richtig zu spüren. Reger Schiffsverkehr passiert dies Nadelöhr. Alles treibt vom Wind getragen in die Ferne und in den Nebel. Es ist ein langer Weg bis nach Ushuaia. Grenzübergang von Chile nach Argentinien bei San Sebastian. Immer die gleiche Landschaft. Sprühregen, grauer Himmel, schnurgerade Straße - stundenlang. Der Fahrer bemerkt: „Im Winter ist diese Straße glatt und gefährlich. Unfälle sind an der Tagesordnung.“ Aber dann tauchen kurz vor Ushuaia Bohrtürme und die Kuppeln von Radarantennen auf. An der Küste von Feuerland wird Öl und Gas gefördert. Ushuaia, die südlichste Stadt der Erde, hat sich zu einem Industriezentrum entwickelt. 

Nationalpark Torres del Paine
Lago Grey, Torres del Paine
Nationalpark Torres del Paine

Pinguin-Tango, Blob und Buckelwal

Hier endet die Routa National Nr. 3. Das letzte Teilstück, 18 km westlich von Ushuaia an der Lapataia Bucht, hält vor der großen Zieltafel. Die Biker schießen ihr Erinnerungsfoto am Ende der 7.000 km langen Panamericana am Beagle Kanal und die Trekker machen sich auf den Weg in die nahen Berge. Wir haben den Cerro del Medio (974 m) gewählt und begeben uns auf eine Wanderung durch den kalten Regenwald. Unser Guide Lionel ist gut bewandert in der Flora Feuerlands, wie sich bald herausstellt. Der Nebelwald ist feucht, kühl. Lenga, antarktische Scheinbuchen, bilden den Baumbestand. Wir schreiten durch verrottendes Holz, vorbei an knorrigen Baumgestalten mit zottigen Bartflechten wie man sie nur aus Fantasy Geschichten kennt, bis wir die Felsregion erreicht haben. Vom Gipfel des Cerro erhaschen wir noch einen Blick auf den Hafen von Ushuaia und den Beagle Kanal. Am südlichen Horizont ist ein dunkler Streif zu sehen, die Isla Navarino. Aber weiter geht die Sicht nicht. Bis Kap Hoorn, wo Atlantik und Pazifik aufeinandertreffen, sind es noch mehr als einhundert Kilometer. Und dann kommt plötzlich Sturm auf. Ein heftiges Schneegestöber verweht in Kürze den Rückweg und während uns unser Guide Leo sicher zum Abstieg führt, gewahre ich an einem Schneehang ein ganzes Feld dorniger Schokoladenblumen (Nassauvia magellanica). Wie stachlige Schneebälle trotzen sie hier dem antarktischen Wetter. Als wir schließlich wieder im schützenden Wald sind, gibt es eine weitere Überraschung: Der Blob! Gelb, gallertartig, wie ein Schleimpilz hingefläzt auf die Borke eines morschen Baumes. Er hat keine Augen, wir starren ihn an. Es ist nicht der „Schrecken ohne Namen“, es ist auch kein Tier, keine Pflanze, kein Pilz, es ist eines der ältesten Lebewesen und der größte Einzeller der Erde und kann mehrere Quadratmeter groß werden. Die Biologen nennen ihn Physarum polycephalum und haben herausgefunden, dass der Blob sich räumlich orientieren kann und ein „Gedächtnis“ besitzt.

Berge voll Schnee, das ist die Cordillera Darwin, die sich entlang des Beagle Kanals erstreckt, nicht außergewöhnlich hoch aber immerhin bis 2.488 m. Wir fahren zur Insel Martillo, ein Paradies für Pinguine. Auch sie liegt im Beagle-Kanal und muss mit einem Schlauchboot angefahren werden. Die putzigen Tiere scheinen schon auf unseren Besuch gewartet zu haben. Federflaum treibt im Wind. Die Magellan-Pinguine haben ihr Kleid geputzt. Schwarz-weiß präsentieren sie sich, eine ganze Kolonie. Die weißen Streifen, wie Krawatten geschlungen um Kehle und Nacken lassen sie feierlich aussehen. Ein schwarzes Band läuft über Brust bis an die Flanken und flattert hinunter bis an die Beine. Man könnte meinen, es wäre ein Frack für den großen Auftritt. Dann zeigen sie ihr Können, laufen los, legen einen perfekten „Camino“ hin, gefolgt von einer „Parada“, recken den Schnabel hoch, voller Eleganz, stoßen Rufe aus, wie eine Einladung an den Tanzpartner. Wir bekommen einen veritablen Tango Argentino zu sehen, begleitet von der Musik des Winds über dem Beagle-Kanal. Eine Gruppe von Königspinguinen kann es noch besser. Größer von Gestalt, reizvoller das Outfit mit gelborangenen Einstecktüchern und hoch geschwungenen Schnäbeln, legen sie richtige Drehungen hin bevor sie im Sand landen. Auf der anschließenden Fahrt durch den Archipelago kann die Freude nicht größer sein: Die Sonne strahlt hell vom Himmel, während wir auf den Beagle-Kanal hinaustreiben mit Blick auf die spektakuläre Landschaft Feuerlands, den vergletscherten Bergen und Fjorden rundum. Wir passieren größere und kleinere Felsinseln, voll besetzt mit Robben, Seelöwen, Kormoranen, Sturmvögeln bis von Achtern ein Ruf erschallt: „¡La ballena! ¡La ballena!“ Wir laufen hin und sehen einen mächtigen Buckelwal seine Tauchgänge vollziehend. Glücklich, wer in der Eile ein Bild der abtauchenden Schwanzflosse noch schießen kann. Bald haben wir den südlichsten Punkt unserer Reise erreicht. Vor uns steht auf einer schmalen Felsinsel der Faro Les Éclaireurs 54° 52‘ 17,4‘‘ südlicher Breite. Es ist ein aus weiß-roten Backsteinen errichteter Leuchtturm.

Wo sind die Ureinwohner geblieben?

Eine unwirkliche Stille liegt über der flachen Bucht. So ruhig kann es nur am Ende der Welt sein, ein Urzustand, wenn alle Erregungen erloschen sind und die Stille dominiert: Das Ende der Winde, der Bewegung und des Palaverns. Wir stehen am Ufer der Bahía Lapataia. Die verdeckte Sonne scheint rötlich durch die Wolken. Kein Lichtstrahl flackert auf der gläsernen Wasserfläche, auf der sich Wolken, Berge, Inseln wie lange Schatten spiegeln. Alles ist gedämpft, erstarrt, selbst die Gedanken schweigen, als ob die Zeit keine Dimension mehr hätte. Oder doch? Irgendwie beginnt sich die Vergangenheit zu regen. Fragen melden sich, suchen nach einer Antwort.  

Wo sind die Ureinwohner Feuerlands geblieben? Die hießen Yamana, Kaweskar, Haush, Selk’nam usw. Die vielen Namen und Schicksale sind vergessen. Mit der Besiedlung Feuerlands ab 1865 begann die Vernichtung der Ureinwohner. Teils durch eingeschleppte Epidemien, teils durch gezielte Ausrottung wie im Wüstenfeldzug (Campania del Desierto, 1879).  Bis 1910 war die indigene Bevölkerung fast vollständig ausgerottet. Die Indigenas wohnten in Laubhütten errichtet aus gebogenen Lengaästen. Ein Guanakofell, oft vollständig nackt, mit Fischöl eingerieben, als Schutz gegen die Kälte. Tag und Nacht wurde befeuert und rund herum saßen die nackten Menschen, um sich zu wärmen. Daher die Bezeichnung Feuerland. In den Wäldern an der Lapataiabucht begegnet man heute noch den Aschenhügeln. Darwin berichtete: „Wenn man solche Menschen sieht, glaubt man kaum, dass sie Mitmenschen und Bewohner derselben Erde sind.“  Das Londoner Anthropologische Museum zahlte bis zu acht Pfund Sterling für den Kopf eines Feuerländers. Heute gibt es auf Feuerland keinen einzigen Indigenen mehr. Wo kein Kläger ist, schweigt die Geschichte, wie die Bucht bei Lapataia.

Feuerland

Zurück in Buenos Aires. Früh am Morgen: Bettler kriechen erstarrt aus den Kartons an luxuriösen Häuserzeilen. Es ist kalt geworden 13°C. Als wir ankamen waren es noch 28° C. Ich habe einer Mutter mit ihrem Kind einen heißen Kaffee und eine Tüte mit Hörnchen hingestellt. Sie greifen danach, teilnahmslos. Die Inflation hat die Schwächsten fest im Griff. Hier endet der Tango. Er hat bei aller Faszination einen traurigen und schwermütigen Unterton. Wir treten den Heimflug an.

Bericht von Wolfgang Gottschick

Weitere Impressionen der Patagonien-Reise:

Perito-Moreno-Gletscher
Nationalpark Torres del Paine
Laguna de Los, Fitz Roy

zur Reise: Argentinien, Chile - Patagonien pur